Vor wenigen Tagen unternahmen wir eine Kreuzfahrt mit der AIDAprima – inklusive „Mann über Bord“ am 07.11.2023 und den daraus resultierenden Aktionen. Eine Betrachtung aus persönlichem Miterleben.
„Mann über Bord“
Kurz nach Mitternacht am 07.11.2023 hörten wir auf den Gängen der AIDAprima (am Vorabend von Stavanger Richtung Hamburg abgelegt) eine Durchsage, dass ein „Mann über Bord“ gegangen sei und daher nun entsprechende Maßnahmen eingeleitet wurden. Wir befanden uns zu dieser Zeit auf Deck 14 bzw. 15 und bemerkten kurze Zeit nach der Durchsage bereits, dass das Schiff sehr heftige Brems- und Lenkmanöver durchführte. Das war auch sehr gut an der Heckströmung zu erkennen, die in ordentlichem Winkel ungewöhnlich stark zur Seite verlief. Kurzum, wir bremsten seitlich ab – die Antriebsgondeln und Seitenstrahlruder leisteten Schwerstarbeit.
Rettung aus dem Wasser
Von Deck 15 aus sahen wir dann auch schon Rettungsringe, unter anderem auch einen mit Signalrauch, die ins Wasser geworfen worden waren. Von der Beach Bar auf Deck 15 aus, wo gerade Silent Disco war, betrachteten dann auch einige der Passagiere, die das mitbekommen hatten, die Rettungsaktion. Das Rettungsboot mit dem Geretteten fuhr dann auch, nachdem sie ihn nach einigen Versuchen erfolgreich ins Boot gehievt hatten, unter uns wieder zum Schiff zurück. Um 0:41 Uhr dann kam eine erneute Durchsage des Kapitäns, dass eine Meldung über eine Person bei der Crew eingegangen ist über eine Person, die „höchstwahrscheinlich über Bord gesprungen ist“ und dass man diese, noch im Wasser schwimmende Person nun gefunden sowie ins Bordhospital gebracht habe für die weitergehende Behandlung und Betreuung. Da man nicht wisse, wie viele Personen über Bord gegangen sind, müsse eine Vollzähligkeitsmusterung durchgeführt werden. Ein entsprechender Alarm werde noch ausgelöst.
Runter zur Musterstation
Wir begaben uns mit den ersten Passagieren dann schon, also gegen ca. 0:45 auf unsere Musterstation auf Deck 7 und hielten uns für das Durchzählen bereit. Doch lange Zeit passierte erst einmal gar nichts, da nicht allzu viele Passagiere das überhaupt mitbekommen hatten. Nach und nach trudelten einige dort ein, das Personal saugte und reinigte derweil noch die Gänge und Bars, es wirkte irgendwie nicht nach einer außergewöhnlichen Situation. Irgendwann dann so ca. 10 Minuten später erschienen die ersten Crew-Mitglieder auf der Station und legten ihre entsprechenden Warnwesten an. Die Musterstation füllte sich und mit teils piepsigen Stimmen versuchte die Crew, Ordnung in das aufkommende Chaos zu bringen. Nach einigen Minuten fanden sie dann ein Mikrofon, mit dem das deutlich besser lief, aber wir beobachteten weiter mit Spannung, wie das hier gemanaged wurde – klare Ansagen waren jedoch Mangelware und es ging nur darum, dass sich alle möglichst dicht hinstellten und nicht wegliefen.
Später Generalalarm
Um 1:13 Uhr, also eine knappe halbe Stunde nach Ankündigung der Vollzähligkeitsprüfung, wurde erst der Generalalarm ausgelöst und es erfolgten die Durchsagen auf Deutsch und Englisch – allerdings nur mit dem Hinweis, dass sich bitte alle Passagiere aufgrund des Generalalarms auf ihre Musterstationen begeben sollten. So nach und nach kamen dann weitere Passagiere auf unsere Station, korrekterweise jedoch die meisten mit angelegten Schwimmwesten – denn diese aus dem Schlaf Gerissenen wussten ja gar nichts von dem „Mann über Bord“ und der bloßen Vollzähligkeitsprüfung. Womöglich dachte manch eine(r) ja tatsächlich, dass wir gar selbst von Bord gehen müssten – Titanic lässt grüßen. Da mag es sicherlich Protokolle geben, aber hier wäre eine entsprechende Zusatz-Botschaft, dass z.B. keine Schwimmwesten benötigt würden in diesem Fall der reinen Vollzähligkeitsfeststellung, sicherlich hilfreich gewesen.
Wärme beim Warten
Von unserer Position aus konnten wir auch auf Deck 6 sehen, wo sich die „Scharfe Ecke“ (die Currywurst-Bude) und eine andere Musterstation befanden – die Wärmeentwicklung, auch aufgrund der vielen Personen war schon heftig und uns taten die vielen Alten und ganz Jungen leid, die teils nur im Bademantel und Schlafanzügen nachts aus dem Schlaf gerissen wurden und dann sehr lange im warmen Bereich der Musterstation ausharren mussten. Wir sahen auch, wie nach einiger Zeit ein Deck tiefer ein älterer Herr beinahe umgekippt ist und dann erst einmal behelfsmäßig gegen einen Rollator mit dem Rücken auf den Boden gesetzt wurde.
Das falsche Versprechen von Wasser
Wir befanden uns knapp eine Stunde schon auf der Musterstation und auch wir entwickelten – nicht zuletzt aufgrund der Wärme – ordentlich Durst. Zum Glück hatten wir noch Kaugummis bzw. Bonbons in den Taschen, aber der Durst wurde dadurch auch nur bedingt reduziert. So freuten wir uns sehr über die Durchsage unseres Crewteams, dass Wasser verteilt würde und man sich nur beim Durchgehen kurz per Handzeig bemerkbar machen solle, wenn man etwas trinken möchte. Doch leider und auch zum Unmut vieler anderer Gäste geschah dies eben überhaupt nicht. Vermutlich scheute die Crew dann doch den Weg durch die dicht gedrängt stehenden Gäste oder es kam etwas anderes dazwischen. So etwas geht aber gar nicht und war sicher auch ein Grund, warum es manch älteren Gäste langsam nicht mehr so gut ging.
Ausrufen der fehlenden Passagiere
Regelmäßig wurden dann per Lautsprecher Kabinennummern im ganzen Schiff inkl. vollständiger Passagiernamen ausgerufen, die offenbar noch fehlten. Um ca. 1:45 Uhr war dann immerhin unsere Station vollzählig, aber wir mussten noch warten, bis das gesamte Schiff gezählt war. Dem nachfolgenden Verkehrschaos hätte ein versetztes Hochgehen jedoch sicherlich entgegengewirkt.
Ende und Heimweg
Um ca. 2 Uhr dann ertönte die lang erwartete Durchsage, dass nun alle gezählt und vollzählig an Bord sind – und alle auf die Kabinen gehen können. Und dann brach natürlich erst einmal das Rückkehr-Chaos los, weil die meisten mit Aufzügen fahren wollten. Wir bildeten dann erst einmal eine „Wir wollen nur zur Treppe durch“-Polonaise und fanden auch gleich zahlreiche, dankbare Anhänger. Um ca. 2:10 Uhr waren wir dann zurück und sprachen noch lange über die Art der Durchführung.
Platz für Verbesserungen
Ganz offensichtlich war es sehr sinnvoll und wohl auch vorgeschrieben, dass die Vollzähligkeit geprüft wurde, aber ob das in dieser Form wirklich nötig gewesen wäre, empfanden wir schon als deutlich fragwürdig. Denn vor allen Kabinen prangte bei unserer Rückkehr stolz das „Evacuated“ Schild – was sich im Badezimmer der Kabinen befindet. Es war also die Crew in der Kabine, schaute, ob jemand da ist und holte das Schild heraus. Wie einfach wäre es da gewesen, genau in diesem Moment einfach die Bordkarten zu scannen. Man hätte es ja ganz grob von der Zeit abhängig machen können: Sind wohl mehr Passagiere um Mitternacht noch auf den Beinen oder schon im Bett? Auf Basis dessen dann eine kurze Abwägung, was wohl das für alle einfachere Szenario ist. Eine zeitnaher Generalalarm inkl. Durchsage wie „Gehen Sie alle in die Kabinen, es kommt jemand vorbei, halten Sie Ihre Bordkarten bereit!“ hätte das alles deutlich vereinfacht. Fehlende Passagiere hätte man immer noch separat ausrufen können – das erfolgte ja auch, als sich alle auf den Musterstationen die Beine in den Bauch standen. Und die Probleme mit Toilettengängen, Durst und schwachen Beinen hätten sich gar nicht erst ergeben, da man ja auf Kabine gewesen wäre. Von der verursachten Angst bei manchen Passagieren, dass man nun von Bord müsse, ganz zu schweigen.
Ein wenig verwunderte uns auch eine weitere Ansage zwischendurch, dass die Crewmitglieder sich doch bitte allesamt auf die zugewiesenen Stationen bewegen sollen – offenbar war das auch dort noch nicht überall angekommen.
Kurzum, was wir auch so von anderen Reedereien mitbekommen haben – das geht besser und hinterließ bei uns ein eher durchwachsenes Gefühl. Wollen wir hoffen, dass wenn es mal zu einem „richtigen“ Ernstfall kommt und keinem bloßen Durchzählen, hier die Abläufe nahtloser greifen, die Crew einem mehr das Gefühl gibt, Herr der Lage zu sein und vor allem: besser kommuniziert wird.
Das Nachspiel
Am folgenden Morgen um 10 Uhr gab es nochmal eine Durchsage des Kapitäns und auch die Ankündigung (und leicht verspätete Durchführung) einer Q&A-Session um ca. 16 Uhr im prall gefüllten Theatrium, die auf Kurzreisen eigentlich nicht durchgeführt wird. Dort wurden verständlicherweise auch viele Fragen zu dem Vorfall gestellt, die der Kapitän jedoch öffentlichkeitstauglich umschiffte bzw. nur butterweich beantwortete. Seiner Bitte, von Fragen hierzu abzusehen, wurde nur bedingt entsprochen, was eben zeigt, dass hier ein deutliches Interesse an Aufklärung bestand. Persönlichkeitsrechte sind selbstverständlich zu wahren, aber etwas mehr zum Hergang hätte sicherlich nicht nur die Neugierde der Passagiere gestillt, sondern ja auch durchaus abschreckend-erzieherischen Charakter haben können. Einem Kind, das berechtigterweise zwei Mal die Frage stellt, wie denn jemand überhaupt über Bord gehen kann, zu antworten, dass hier alles sicher sei und sowas nicht passieren kann, ist angesichts des Vorfalls, der sich ja trotz alledem gerade dennoch ereignet hat, verständlicherweise eher unbefriedigend. Das führte letztlich auch dazu, dass die Gerüchteküche an Bord ordentlich unter den Gästen am Brodeln war und auch im Nachgang in den Sozialen Medien der Vorfall und die dazu führenden Ereignisse lebhaft diskutiert wurden. So manchem Gerücht hätte man hier mit einem klareren Statement durchaus die Kraft nehmen können.
Die spärliche Auskunft seitens AIDA mag dem PR-Wunsch im Sinne der Political Correctness geschuldet sein, nur Positives zu berichten. So kam das mehrfach geäußerte, schon etwas überschwängliche Lob des Kapitän an Crew und Passagiere bei einigen Gästen auch etwas merkwürdig bis ironisch an. Insgesamt sind wir natürlich sehr froh über den glimpflichen Verlauf des Unglücks. Wir hoffen allerdings, dass dieser Vorfall intern noch nachbereitet wird und die Abläufe – besonders auch in organisatorisch-kommunikativer Hinsicht – von AIDA noch einmal reflektiert werden. Vielleicht kann unser Artikel hierzu ja auch einen Beitrag leisten und ein paar Denkanstöße aus Sicht der Passagiere zu einem solchen Unglück geben. Denn beim Umgang damit sehen wir noch Potenzial.